Aktuelle Studien zu Auslösern, Symptomen, Biomarkern, Behandlung und deren Zusammenhang mit Post-COVID
Myalgische Enzephalomyelitis (ME), besser bekannt als Chronic Fatigue Syndrome (CFS), ist eine neuroimmunologische Multisystemerkrankung, die weltweit Millionen von Menschen betrifft. Die weltweite Prävalenz von CFS liegt zwischen 0,4 % und 2,5 % und ist am steigen.1 Diese sehr komplexe Erkrankung ist durch schwere heterogene Symptome gekennzeichnet, die die kognitiven, autonomen und neuropathischen Funktionen der Patienten beeinträchtigen2,3. Klinische Leitlinien gibt es kaum oder sind sogar potenziell schädlich. So bleiben bis zu 91 % der Patienten in den Vereinigten Staaten unerkannt oder werden sogar falsch, z. B. als depressiv, diagnostiziert. Patienten mit einer CFS Diagnose erhalten oft keine angemessene Behandlung1.
> Krankheitsbilder, Symptome und Beeinträchtigungen
Chronic Fatigue (CF) wird als „substantial fatigue lasting for more than 6 months“4 definiert und ist eines der schwerwiegendsten Gesundheitsprobleme bei diesen Patienten. Aber auch Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnisstörungen, Schmerzen, Schlafstörungen, Belastungsintoleranz und ein beeinträchtigtes Herz-Kreislauf-System sind mögliche Anzeichen für ME/CFS.5 All diese Symptome haben einen signifikanten Einfluss auf die Lebensqualität der Patienten.
Einer der charakteristischsten Bestandteile des Mechanismus, der der Pathologie des CFS zugrunde liegt, ist eine Funktionsstörung des autonomen Nervensystems (ANS). Bei bis zu 95 % der Menschen mit ME/CFS verursacht oder verschlimmert längeres Stehen oder Sitzen die Symptome. Laut den NAM-Diagnosekriterien (2015)6 manifestiert sich eine orthostatische Intoleranz, zu der orthostatische Hypotonie, das posturale orthostatische Tachykardiesyndrom und eine neural vermittelte Hypotonie gehören.
Eine genaue Identifizierung der orthostatischen Intoleranz ist essenziell, um eine Fehldiagnose (wie z.B. eine psychiatrischen Störung) auszuschließen und eine angemessene Behandlung, die sich von der einer Angststörung unterscheidet, zu gewährleisten.1
> Auslöser
Infektionen gelten als häufigster Auslöser von CFS. Kristiansen et al. untersuchten Jugendliche mit und ohne CF-Symptomen, die 6 Monate nachdem sie am Epstein-Barr-Virus (EBV) erkrankt waren, hinsichtlich klinischer Symptome und Marker für Krankheitsmechanismen. Die autonome Aktivität wurde durch kontinuierliche, nichtinvasive Überwachung der Herz-Kreislauf-Werte in Ruhelage, bei kontrollierter Atmung und im aufrechten Stehen beurteilt.
Die Gruppe mit chronischer Müdigkeit wies bei allen klinischen Symptomen signifikant höhere Werte auf als die Gruppe ohne CF. Alle Infektionsmarker und die meisten immunologischen, neuroendokrinen und autonomen Marker waren in beiden Gruppen ähnlich. 4
> Neuer Biomarker
Azcue et al. beschreiben die Untersuchung der leichten Neurofilamentkette (NFL – Neurofilament light chain) im Plasma als neuen Biomarker, um CFS in Verbindung mit neurologischen Funktionsstörungen noch spezifischer zu diagnostizieren. Erhöhte NFL-Werte im Blut der Patienten können auf neuroaxonale Schäden hinweisen, die kognitive Funktionsstörungen und autonome Beeinträchtigungen verursachen.2 Dieser Biomarker wurde bereits bei Patienten mit Multipler Sklerose verwendet, um Personen zu identifizieren, bei denen ein Risiko für eine zukünftige Krankheitsaktivität besteht.8
> CFS und Post-COVID-19
Ein weiterer wichtiger Aspekt von ME/CFS ist, dass ME/CFS- und Post-Covid-19-Erkrankte ähnliche Symptome aufweisen und diese Krankheitsbilder eng verwandt zu sein scheinen. Eine Review-Studie wies darauf hin, dass sich die Zahl der ME/CFS-Fälle infolge der Pandemie sogar verdoppeln könnte.1 Wong et al. (2021) stellten eine große Ähnlichkeit beider Krankheiten fest und kamen zu dem Schluss, dass frühe Untersuchungen zur Long-COVID-Symptomatik viele Überschneidungen mit der klinischen Präsentation von ME/CFS nahelegen. 9
Eine weitere aktuelle Studie von Azcue et al. verglich die Symptome von Post-COVID-Patienten und Patienten, die an ME/CFS leiden. Beide weisen Ähnlichkeiten auf wie Müdigkeit, kognitive Probleme, Gehirnnebel, kardiovaskuläre Ereignisse, autonome und neuropathische Symptome. Beide Patientengruppen wiesen im Liegen und Stehen eine höhere Herzfrequenz auf als die gesunden Kontrollpersonen.
Beide Patientengruppen wiesen eine viel höhere Anzahl an Personen mit posturalem orthostatischem Tachykardiesyndrom (POTS) auf, als die gesunde Gruppe. Sie reagierten viel empfindlicher auf heiße Reize, was auf eine Small-Fiber-Neuropathie hindeutet, eine Erkrankung der winzigen Nervenfasern, die sich hauptsächlich unter der Haut befinden. 3
Mehrere Studien berichten von Chronic Fatigue als einer der Hauptbeschwerden beim Post-COVID-19-Syndrom, wie zum Beispiel die Wiener Studiengruppe um Ludwig et al., die bei 77,6 % ihrer COVID-19-Population CF feststellte. 10 Chung et al. untersuchten die zugrunde liegende Pathophysiologie des Post-COVID-19-Syndroms im Zusammenhang mit autonomen Funktionsstörungen wie POTS. Diese Studie zeigte, dass klinische Merkmale und die Ergebnisse der autonomen Funktionstests keinen Unterschied zwischen Patienten mit POTS und jenen mit Post-COVID-19-Syndrom zeigten. Die Ergebnisse deuten auf eine vasomotorische Dysfunktion hin, die der Grund für chronische Müdigkeit oder orthostatische Intoleranz sein kann. 11
> Neue Therapie-Ansätze
Obwohl es noch keine allgemeine Medikation für ME/CFS gibt, können die Symptome individuell gelindert werden. Die Studie von Kujawski et al. stellt ein individuelles Aktivitätsprogramm (IAP) für Patienten mit chronischer Müdigkeit vor, das auf kardiovaskulären, mitochondrialen und Müdigkeitsparametern basiert. Sie kamen zu dem Schluss, dass – obwohl körperliche Betätigung von mehr als der Hälfte der Studienteilnehmer nicht gut angenommen wurde – die therapeutischen Auswirkungen des IAP eine Verringerung der Müdigkeit und eine Verbesserung der funktionellen Leistungsfähigkeit mit Auswirkungen auf die autonome und mitochondriale Funktion darstellten. 5
Wie die zitierten Studien zeigen, ist die Einbeziehung autonomer Funktionstests in den Diagnosepfad für Patienten mit Verdacht auf CFS zu einem unterstützenden objektiven Aspekt geworden, der die Standardmethoden basierend auf Patientengeschichte, Blutmarkern oder subjektiven Antworten auf Fragebögen, ergänzt. „The passive standing or tilt table tests can objectively confirm orthostatic intolerance”1 – ein charakteristischer Aspekt von CFS. Lapp et al. empfahlen Kipptischtests bereits 2003 „in the majority of persons with CFS/ME/FM, especially when fainting, flushing, and postural frailty are present“12. Diese könnten dazu beitragen, Behandlungsentscheidungen effizienter zu treffen, um Patienten wieder ein normales Leben zu ermöglichen.
Referenzen:
1 Bateman, L. et al. Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Essentials of Diagnosis and Management. Mayo Clin. Proc. 96, 2861–2878 (2021). Abstract
2 Azcue, N. et al. Plasma Neurofilament Light Chain : A Potential Biomarker for Neurological Dysfunction in Myalgic Encephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome. 1–13 (2024). doi.org/10.3390/biomedicines12071539. Abstract
3 Azcue, N. et al. Dysautonomia and small fiber neuropathy in post-COVID condition and Chronic Fatigue Syndrome. J. Transl. Med. 21, 1–11 (2023). doi.org/10.1186/s12967-023-04678-3. Abstract
4 Kristiansen, M. S. et al. Clinical symptoms and markers of disease mechanisms in adolescent chronic fatigue following Epstein-Barr virus infection: An exploratory cross-sectional study. Brain. Behav. Immun. (2019). Abstract
5 Kujawski, S. et al. Relationship between Cardiopulmonary, Mitochondrial and Autonomic Nervous System Function Improvement after an Individualised Activity Programme upon Chronic Fatigue Syndrome Patients. J. Clin. Med. 10, 1542 (2021). Abstract
6 National Academy of Medicine NAM. Beyond myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome: Redefining an illness. Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness (2015). doi:10.17226/19012. Abstract
7 Kujawski, S. et al. Post-Exertional Malaise May Be Related to Central Blood Pressure , Sympathetic Activity and Mental Fatigue in Chronic Fatigue Syndrome Patients. J. Clin. Med. 10, (2021). Abstract
8 Benkert P., et al. Serum neurofilament light chain for individual prognostication of disease activity in people with multiple sclerosis: a retrospective modelling and validation study. The Lancet Neurology 2022, Volume 21, Issue 3:246-257. doi.org/10.1016/S1474-4422(22)00009-6. Abstract
9 Wong, T. L. & Weitzer, D. J. Long COVID and Myalgic Encephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome ( ME / CFS )— A Systemic Review and Comparison of Clinical Presentation and Symptomatology. Medicina (B. Aires). (2021). Abstract
10 Ludwig, B. et al. Reported neurological symptoms after severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2 infection: A systematic diagnostic approach. Eur. J. Neurol. 30, 2713–2725 (2023). Abstract
11 Chung, T. H. Autonomic Nerve Involvement in Post-Acute Sequelae of SARS-CoV-2 Syndrome ( PASC ). J. Clin. Med. (2023). Abstract
12 Lapp, C. W., Black, L., Smith, R. S. & Carolina, N. Symptoms Predict the Outcome of Tilt Table Testing in CFS/ME/FM. 2–4 (2003). Abstract